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Brief an "meine" Kirche

Notizblock
Datum:
Veröffentlicht: 29.1.22
Von:
Markus Schürrer
Gedanken von Pfarrer Markus Schürrer

Meine liebe Kirche,

was hat man nur aus Dir gemacht?

Wie wohl habe ich mich damals mit meinen Freunden bei den Ministranten gefühlt. Manchmal haben wir am Wochenende sogar in mehreren Gottesdiensten ministriert, nur um Weihrauch machen zu dürfen.

Wie schön waren die Gruppenstunden mit Kaplänen und Gemeindereferenten.

Was für tolle Jugendgottesdienste und Sommerfreizeiten haben wir als Jugendliche vorbereitet. Man hat uns etwas zugetraut und ich durfte auf diese Weise wachsen und reifen.

Oder die tolle Zeit bei den Pfadfindern, an die ich immer wieder gerne zurück denke.

Später dann die ersten Schritte in der Seelsorge. Langsam habe ich mich vorgetastet und gemerkt - ich bin am richtigen Ort. Auch später dann, an der ersten eigenen Pfarrstelle. Welchen besonderen Menschen konnte ich begegnen, was für eine Gebets- und Glaubensgemeinschaft querbeet durch alle Alter. Was für tolle Gottesdienste und Aktionen. Eine wunderbare Zeit.

Wie viel Trost habe ich in Dir erfahren, damals, als mein Vater nach seiner langen Erkrankung gestorben ist.

Wie viele Tränen sind mir in Deinen Räumen über die Wangen gelaufen, wie verzweifelt war ich, weil ich geglaubt habe, ich packe die Prüfungen nicht und wie oft habe ich durch das Anzünden einer Kerze wieder neuen Mut bekommen.

Durch Dich und dank Dir habe ich beeindruckende Menschen kennen gelernt. Menschen, die mir gezeigt haben, was es bedeutet, Freude am Glauben zu haben; wie erfüllt und froh der Dienst an Gott und Menschen machen kann. Zeugen einer Kirche - lebendig, unverkrampft, offen für alle, die kommen und hilfreich für das Leben so vieler Menschen.

Kirche, ich konnte mir nichts schöneres vorstellen, als in Dir einen Dienst zu übernehmen.

Und jetzt? Was hat man aus dir gemacht, so dass ich Dich gerade nicht mehr erkennen kann? Ich leide mit Dir. Für manches, das Menschen in Deinem Namen getan haben, schäme ich mich. Manchmal kommt die Wut in mir hoch, meistens aber fehlen mir die Worte.

Unheil ist in Dir geschehen durch die, die eigentlich das Heil der Menschen und gerade der Schwächsten im Blick haben sollten. So viel Leid ist denen angetan worden, die sich nicht wehren konnten. So viel wurde von Verantwortungsträgern gedeckt und vertuscht. Verbrecher wurden versetzt mit dem einzigen Ziel: Deinem Ruf, liebe Kirche, nicht zu schaden. Die Opfer haben dabei keine Rolle gespielt. Nur wenige sind überhaupt gehört worden. Eine Schande. Und als wäre das Schicksal eines und einer jeden Einzelnen nicht schlimm genug, versucht man sich auch heute noch in wohlfeilen Stellungnahmen, Entschuldigungen, Verharmlosungen und sogar Lügen.

Jetzt springen Dir wieder Menschen gefragt und ungefragt zur Seite Sie meinen, Dich verteidigen zu müssen. Jetzt reden und schweigen erneut die Falschen.

• Weil die ach so schlimme Presse zu hart mit Dir ins Gericht geht.

• Weil man Dir ja nur schaden wolle.

• Weil das alles früher normal gewesen sei.

• Weil der Lehrer X früher auch ordentlich hingelangt hat.

• Weil es in Familien, Sport und Schule noch viel schlimmer ist.

• Weil die überwiegende Mehrheit sich nichts zu Schulden hat kommen lassen.

Sicherlich. Die überwiegende Mehrheit hat sich nichts zu Schulden kommen lassen. Hat eine gute Arbeit gemacht und macht sie - bis heute. Doch das entschuldigt das andere in keiner Weise. Um ehrlich zu sein, liebe Kirche, ich bin die Ausreden, Verharmlosungen und leeren Entschuldigungen leid. Weil die Opfer so erneut zu Opfern gemacht werden.

Und es kann doch nicht sein, dass Verantwortliche in vielen Bereichen der Kirche allein auf ihre Entscheidungsgewalt pochen. Ausgerechnet jetzt aber, bei diesen Ereignissen, legen sie Wert darauf, dass wir alle Kirche sind und Umkehr nötig haben. Nein. Das lasse ich nicht gelten. Jetzt gibt es kein Wir. Jetzt muss es ein Ich geben. Die Verantwortung für diese Verbrechen haben nicht wir alle. Sondern alleine diejenigen, die sie getan, die sie vertuscht oder die viel zu lange und viel zu häufig weggeschaut haben.

Seit Jahren ziehe ich Woche für Woche Briefe mit Kirchenaustritten aus dem Briefkasten. Jetzt werden es wieder mehr. Engagierte Gemeindemitglieder erzählen mir, dass ihre Kinder aus der Kirche austreten möchten und sie wissen nicht, was sie noch dagegen sagen können. Manche sagen: lass sie doch gehen! Vielen von denen ginge es eh nur um das Geld und ihr Austritt wäre nur konsequent. Dann würdest Du Dich, liebe Kirche, wenigstens gesund schrumpfen. Und es würden diejenigen bleiben, denen es ernst ist. Ich sage Dir ehrlich: dieses Denken ist krank. Lautet unser Auftrag etwa nicht: geht in alle Welt und verkündet allen Menschen die frohe Botschaft? Hat Jesus jemals irgendeinen Menschen abgeschrieben? Wann sind wir zu der Gemeinschaft geworden, der es egal ist, ob Menschen zu ihr gehören oder nicht? Wann bitteschön sind uns diese Menschen gleichgültig geworden?

Wie oft werden Christinnen und Christen in diesen Tagen angefragt, wie sie nur noch Mitglied in dieser Kirche sein können? Im Freundeskreis, in der Familie, auf der Arbeit. Wie schwer tragen in diesen Tagen diejenigen, denen du, liebe Kirche, noch immer etwas bedeutest? Wie fassungslos schütteln viele den Kopf über uns? Wie sollen wir Menschen noch glaubwürdig Rat und Orientierung geben? Es tut weh und ich frage mich: wie geht es nur mit Dir weiter?

Du weißt selbst am besten, liebe Kirche, dass es Dir nicht um Deinen Ruf geht. Du bist nicht die, die geschützt und gerettet werden will. Du willst die sein, die Menschen aufbaut, tröstet und mit Hoffnung erfüllt. Mitten in einer Welt und Zeit, in der das Leben ohnehin schon schwer genug ist. Du hättest den Menschen gerade heute eine so gute Botschaft zu sagen. Aber man kann Dich nicht hören, weil manche Deiner Vertreter meinen, es ginge alleine darum, Deinen Ruf zu retten anstelle von Menschen. Das System krankt. Du, Kirche, wurdest krank gemacht.

Kirche, ich habe viele Wünsche für Dich. Ich wünsche Dir, dass Deine Verantwortungsträger es schaffen, die Vergangenheit glaubhaft aufzuarbeiten. Dass sie verhindern, dass so etwas jemals wieder in Deinem Raum geschehen kann. Ich wünsche Dir, dass diejenigen, die Verantwortung für die Verfehlungen haben, auch wirklich Verantwortung übernehmen und es nicht nur vorspielen. Ich wünsche Dir, dass Du Deinen Platz in der Gesellschaft neu findest. Ich wünsche Dir, dass es Deinen so genannten Dienern gelingt, aus dem System der Macht, Machtspiele und Machthaberei auszubrechen. Ich wünsche Deinen Verantwortlichen den Mut, sich auf notwendige Veränderungen offen einzulassen.

Einfachheit, Demut und Bescheidenheit sind angesagt; nicht die Erinnerung an den scheinbaren Glanz früherer Zeiten, die auf den zweiten Blick gar nicht so glanzvoll waren. Es braucht die Ausrichtung an Deinem Ursprung, am Evangelium, an der Botschaft, um die es eigentlich geht. Um die Botschaft, die nicht in prächtigen Gewändern und Palästen daherkommt. Nicht in langen, komplizierten und bevormundenden Reden und Schreiben. Sondern in den einfachen Worten und den liebenden Gesten des Jesus von Nazareth.

Dieser Jesus hat einmal seine Jünger gefragt „Wollt auch ihr weggehen?“ (Joh 6,67). Viele kehren Dir den Rücken und andere ringen mit sich, ob sie es tun sollen. So enttäuscht und hilflos ich gerade auch bin - ich werde es nicht tun. Ich will bei Dir bleiben. Sicher, ich bin als Pfarrer ein Teil des gesamten Systems. Man könnte mir vorwerfen, ich hätte leicht reden, schließlich verdiene ich ordentlich. Darum geht es mir nicht. Ich will aushalten, zusammen mit denen, die auch sprachlos und hilflos sind – wie ich. Ich will das tun, weil ich Dich anders kennen gelernt habe. Nicht als das, was man aus Dir gemacht hat. Weil ich erfahren habe, dass du mehr bist und mehr kannst. Weil ich erfüllt bin von den Begegnungen in den Pfarrgemeinden hier vor Ort. Weil hier viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene für Gott und die Menschen brennen, wunderbare Sachen auf die Beine stellen und noch immer Freude am Glauben haben, allen Herausforderungen zum Trotz. Weil Du in diesen Menschen lebst und weil sie Kirche sind. Weil trauernde Angehörige bei der Beerdigung ein tröstendes Wort brauchen. Weil Eltern für ihr Kind und Paare für ihren gemeinsamen Weg den Segen Gottes als Zusage erhalten möchten. Weil Kranke, Alleinstehende und Menschen in Not einen Beistand nötig und die Stimmlosen eine Stimme verdient haben.

Weil ich daran glaube, dass deine Botschaft, liebe Kirche, so unglaublich wichtig ist für ein gutes Leben ganz vieler Menschen. Und weil ich Dich, meine liebe Kirche, nicht denen überlassen will, die Dich nur als Sprungbrett ihrer Macht und Geltungssucht benutzen. Oder denen, die anderen nur Lasten auferlegen und versuchen, auszugrenzen und festzulegen, wer zu Dir gehören darf und wer nicht. Wer richtig glaubt und wer nicht. Wer richtig lebt und wer nicht.

Genau deshalb bleibe ich bei Dir und will versuchen, meinen bescheidenen Beitrag dazu leisten, dass andere auch bleiben. Ich will mit all meiner Kraft und trotz meiner Fehler und Schwächen mitwirken in Dir. In einer Kirche, in der die Menschen die Freiheit und Wahrhaftigkeit spüren und leben, die uns der Glaube schenkt. In einer Kirche, in der alle willkommen sind, alle den gleichen Wert haben und sich auf Augenhöhe begegnen. In einer Kirche, in der nicht der Lebensentwurf beurteilt, sondern einfach der Glaube gelebt und gefeiert wird. In einer Kirche, die neu beginnen sollte: einfach, bescheiden, demütig und voller Hoffnung.

Meine liebe Kirche, mach es gut! Oder - versuch es zumindest.

Markus Schürrer, Pfarrer