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Danke für die Taschentücher

Taschentuch
Datum:
Veröffentlicht: 5.1.22
Von:
Markus Schürrer
ein Impuls zum Dreikönigstag

Gerne denke ich an die Zeit zurück, als ich selber Sternsinger war. Ab der zweiten Klasse durfte ich mitmachen. Zunächst „nur“ als Sternträger, später dann als Kaspar, Melchior oder Balthasar mit Text. Meine Freunde und ich haben es sehr ernst genommen. Keine Wohnung sollte vor uns sicher sein, zur Not klingelten wir eben drei- oder viermal. Und wenn wirklich niemand aufmachte, überlegten wir, wie wir am Ende nochmal an der Wohnung vorbeikommen. Natürlich haben wir nie alle erreicht. Neben aller Ernsthaftigkeit hatten wir aber auch unseren Spaß. Kinder halt. Der Stern diente so manches Mal als Schneeschippe und kurz bevor sich die Tür geöffnet hat, hat ihn schon mal der ein oder andere von uns –sanft- auf den Kopf bekommen. Um so schwerer war es dann, bei seinem Text zu bleiben. Meistens waren wir nur Jungs in der Gruppe. Gesungen haben wir zwangsweise leider immer nur bei der Probe. Erst haben wir uns nicht getraut, dann kam der Stimmbruch, dann war es einigen von uns peinlich, vor fremden Wohnungen zu singen. Jungs halt.

Viele Begegnungen waren ganz besonders. Viele Menschen, vor allem ältere oder alleinwohnende haben geweint, manche waren selber Sternsinger und haben den Text noch mit uns sprechen können. Kinder haben sich aus Angst hinter ihren Eltern versteckt oder nur ganz vorsichtig um die Ecke geschaut. Einige Erwachsene wollten es wissen und haben uns Schnaps angeboten, andere ganz stolz ihren Christbaum oder ihre Krippe gezeigt, wieder andere Fotos mit uns gemacht und andere haben uns in besonders kalten Wintern eine Tasse Punsch angeboten, so dass es fast ein wenig schwer gefallen ist, wieder aufzustehen und weiterzumachen. Von manchen Wohnungen wurden wir auch verjagt, angeschrien oder einfach nur weitergeschickt. Einige Hunde mussten wir austricksen, um heil zu den Häusern zu gelangen. Von all dem haben wir uns nicht abhalten lassen. Wir hatten ja eine Mission und die wollte erfüllt werden. Haben wir uns stark gefühlt!

Mit Stolz und großen Augen verfolgten wir, wie die Menschen ihre Spende in die Dose warfen. Besonders dann, wenn die kleineren Kinder das Geld einwerfen sollten, sah man an ihren großen und manchmal auch ängstlichen Augen an, wieviel Respekt sie vor diesen Königen hatten. Im Blick hatten wir natürlich stets, welche Gruppe am Ende des Tages beim Sammelergebnis wohl die Nase vorn hatte. Und nicht ganz unerheblich war auch, wieviele Tüten mit Süßigkeiten am Schluss zusammengekommen sind. Bergeweise wurde am Abend alles auf den Tisch geschüttet und jeder hat sich seine Tüten vollgestopft. Nur einige Sachen sind meistens liegen geblieben: alte Plätzchen, angebissene Pralinenschachteln, Weinbrandbohnen oder –seltsamerweise- Obst. Kann ich mir gar nicht erklären. Einen Abnehmer hat aber doch irgendwie alles gefunden, als wir uns dann erschöpft wieder nach Hause getrollt haben.

Einmal hatten wir eine ganz besondere Süßigkeit in unserer Tasche: ein Päckchen Taschentücher. Haben wir uns aufgeregt: "Eine Unverschämtheit! Sollen sie halt sagen, dass sie nix haben!“ Wir haben lange gerätselt, wer uns das Päckchen in die Tasche geschoben hat, sind aber nicht darauf gekommen. Heute, viele Jahre später, kommt mir diese Begebenheit wieder und ich denke vollkommen anders darüber. Vielleicht hatte der Mensch, der uns das Päckchen Taschentücher gegeben hat, nicht viel zum Leben. Möglicherweise hatte er weder viel Geld, noch irgendwelche Möglichkeiten, uns etwas zu besorgen und hat sich geschämt, uns ohne ein Geschenk weiterziehen zu lassen. Vielleicht war es ein wenig bei der armen Witwe in der Bibel, die den letzten Rest in den Opferstock wirft, den sie noch hat. Für die einen ist es „nur ein Päckchen Taschentücher“. Für diesen Menschen war es vielleicht alles.

Das Päckchen Taschentücher hat mich in meinem Leben eine entscheidende Lektion gelehrt: wir Menschen sehen immer nur einen Ausschnitt, nie das Ganze: vom anderen Menschen, in der Schöpfung und erst recht von Gottes Wirken in dieser Welt. So, wie es im wunderbaren Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius heißt: „Seht ihr den Mond dort stehen. er ist bloß halb zu sehen und ist doch rund und schön. So sind gar manche Sachen, die wir getrost, getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehn.“